Sorge um den Irak: Telefonat zwischen Präsident Salih und Kardinal-Staatssekretär Parolin

Der chaldäische Patriarch Mar Louis Raphael Sako und der schiitische Großayatollah Al H. al-Sistani appellierten an die Manifestanten und an die Sicherheitskräfte, Gewalt zu vermeiden – Die Kundgebungen stehen im Zeichen der irakischen natiionalen Identität, wobei – ähnlich wie im Libanon – alle konfessionellen und ethnischen Grenzen überwunden werden

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Foto: © Saeima; This file has been extracted from another file: Ināra Mūrniece tiekas ar Svētā Krēsla Valsts sekretāru (26363562894).jpg (Quelle: Wikimedia; Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Generic)

Bagdad, 26.10.19 (poi) Der irakische Präsident Barham Salih hat laut einem Bericht der italienischen katholischen Nachrichtenagentur SIR auf dem Hintergrund der aktuellen Protestbewegung im Land mit Kardinal-Staatssekretär Pietro Parolin telefoniert. Der Kardinal habe den irakischen Präsidenten der Unterstützung für das Zweistromland versichert und den Wunsch zum Ausdruck gebracht, dass „das irakische Volk in Frieden und Harmonie leben kann“ und „die Hoffnungen des Volkes auf ein Leben in Freiheit und Würde erfüllt werden“. Das chaldäisch-katholische Patriarchat appelliert an „das Gewissen der Verantwortungsträger“ im Land, damit sie die Forderungen des Volkes zur Überwindung der Arbeitslosigkeit und des Verfalls der Infrastruktur ernst nehmen, vor allem das Verlangen nach „Eindämmung der Korruption“, die die sozio-ökonomische Situation drastisch verschlechtert habe.  In der Erklärung des Patriarchats wird die Solidarität mit den Protestierenden zum Ausdruck gebracht und zugleich vor jeglicher Instrumentalisierung der Proteste gewarnt. An die Sicherheitskräfte ergeht der Appell, das Recht des Volkes auf Kundgebungen zu respektieren und gegen die Kundgebungsteilnehmer keine Gewalt anzuwenden. Im Irak müssten die Probleme jetzt durch einen „konstruktiven Dialog“ angegangen werden, „unter Beteiligung kompetenter Persönlichkeiten, die für ihre Ehrlichkeit und ihre Vaterlandsliebe bekannt sind“.

Bei den Auseinandersetzungen zwischen Manifestanten und Sicherheitskräften in Bagdad und anderen irakischen Städten wurden in den letzten Tagen mindestens 30 Personen getötet und mehr als 350 verletzt, vor allem beim Versuch der Protestierenden, in die abgeriegelte „grüne Zone“ der irakischen Hauptstadt einzudringen, wo sich die Regierungsgebäude befinden. Sowohl der chaldäisch-katholische Patriarch Mar Louis Raphael Sako als auch der schiitische Großayatollah Ali H. al-Sistani haben eindringlich zu „friedlichen“ Protesten für „wahre Reformen und eine bessere Zukunft“ aufgerufen. Der chaldäische Kardinal-Patriarch nahm in seinem am 25. Oktober veröffentlichten jüngsten Appell Bezug auf den Beginn der Kundgebungen am 1. Oktober (damals hatte es an die 150 Todesopfer gegeben, die teils auf das Konto der Sicherheitskräfte, teils auf das anonymer „Heckenschützen“ gingen). Seither werde in allen chaldäischen Kirchen für die Stabilität des Landes gebetet. Mar Louis Raphael Sako hebt in seinem Appell hervor, dass zum ersten Mal seit 2003 (als die US-Amerikaner und ihre Verbündeten im Irak einmarschierten) die Menschen im Irak friedlich auf die Straße gehen, um ihre Forderungen zum Ausdruck zu bringen und dabei im Zeichen der irakischen nationalen Identität – ähnlich wie es jetzt auch im Libanon geschieht – alle „konfessionellen und ethnischen Grenzen“ überwinden. Der Kardinal-Patriarch wörtlich: „Man könnte von einer patriotischen Pilgerfahrt sprechen“. In Solidarität mit den Menschen, die ihr Leid zum Ausdruck bringen und nach einer besseren Zukunft verlangen, müsse er aber auch an alle appellieren, „in friedlicher und ziviler Weise“ zu agieren, im Respekt für das öffentlichen Wohl und unter Vermeidung aller Ausschreitungen, so Mar Louis Raphael Sako, der zugleich die Sicherheitskräfte aufrief, keine „Gewaltmethoden“ einzusetzen.

Die zur Untersuchung der Gewalttaten ab dem 1. Oktober eingesetzte Regierungskommission hat einen provisorischen Bericht vorgelegt, in dem davon die Rede ist, dass Kommandanten und leitende Offiziere der Polizeikräfte die Kontrolle über den Einsatz verloren hätten. Es liege aber kein Schießbefehl von Seiten des Ministerpräsidenten Adel Abd-ul-Mahdi vor. Der irakische Caritasdirektor Nabil Nissan hatte unmittelbar nach den gewaltsamen Auseinandersetzungen am 1. Oktober im Gespräch mit SIR Verständnis für die Forderungen der zumeist jugendlichen Manifestanten bekundet. „Das wahre Übel des Irak ist die ausufernde Korruption, deren negative Konsequenzen sich auf das Alltagsleben der Bevölkerung auswirken. Die Korruption leugnet die Rechte der Menschen, sie schafft Armut und blockiert die Entwicklung“, betonte der Caritasdirektor.  Schmiergelder und Klientelismus hätten sich als die Feinde der Menschen im Irak erwiesen, die zugleich in großer Sorge über die „politische Instabilität, die Präsenz der paramilitärischen Milizen und den Mangel an Sicherheit“ seien. Die Arbeitslosenrate liege bei 22 Prozent, vor allem die jungen Leute seien davon betroffen, es gebe 1,7 Millionen Inlandsvertriebene, 1,5 Millionen Waisenkinder und mehr als eine Million geschiedener Frauen, die ohne Einkommen dastehen. Die irakische Caritas bemühe sich, überall zu helfen. Jedes Jahr leiste die Caritas psychologische Hilfe für zwei Millionen traumatisierter Mütter, die unter den Folgen des Krieges und der Herrschaft der IS-Terroristen leiden, für 3.000 Familien werde Gesundheitshilfe geleistet, 6.000 Kinder erhielten in kirchlichen Einrichtungen Schulunterricht. Im letzten Jahr habe die Caritas 2.000 beschädigte Wohnungen und Häuser restauriert und 100.000 Lebensmittelpakete verteilt. An sich sei der Irak ein an humanen und materiellen Ressourcen reiches Land, betonte Nabil Nissan, aber es müssten die Voraussetzungen geschaffen werden, damit die vielen Herausforderungen bewältigt werden können.

Vor wenigen Tagen brachte Auxiliarbischof Basil Yaldo, ein enger Mitarbeiter des chaldäisch-katholischen Patriarchen, im Zusammenhang mit der türkischen Offensive im nördlichen Syrien die Sorge vieler Menschen im Irak  – Christen, Jesiden, Muslime – zum Ausdruck, dass es zu einer Rückkehr der IS-Terroristen kommen könnte. Die Dschihadisten-Bewegung könne sich die Konsequenzen der türkischen Offensive und des damit verbundenen Chaos zunutze machen, um wieder stärker in Erscheinung zu treten, sagte Bischof Yaldo im Gespräch mit der katholischen Nachrichtenagentur „AsiaNews“. Die militärischen Operationen Ankaras im nördlichen Syrien würden zweifellos auch Auswirkungen auf den Irak haben. In Erbil, der Hauptstadt der autonomen kurdischen Region im Norden des Irak, sehe man das Risiko einer neuen dramatischen Flüchtlingswelle, ähnlich wie beim IS-Vormarsch im Sommer 2014. Von entscheidender Bedeutung sei, dass die internationale Gemeinschaft – „vor allem die USA und Russland“ – Druck auf die Türkei ausüben, „damit dieser Krieg sofort beendet wird“.  Wie immer seien es die Armen, die Zivilbevölkerung in Syrien und im Irak, die „die Rechnung bezahlen müssen“.