1968 geht auch anders: Das Treffen von Patriarch und Professor

Andrea Riccardi, der Gründer von Sant’Egidio, veröffentlichte Buch über die Begegnung von Patriarch Athenagoras mit Olivier Clement, einem der bedeutendsten orthodoxen Theologen des 20. Jahrhunderts – Konsequenz für heute: Der ökumenische Traum von der Einheit der Christen ist nicht ausgeträumt

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Foto: © א (Aleph) (Quelle: Wikimedia; Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported)

Rom, 08.04.19 (poi) Ein anderes „Jahr 1968“ hat der Gründer der Gemeinschaft Sant’Egidio, Prof. Andrea Riccardi, in den Mittelpunkt seines neuen Buches „Il professore ed il patriarca“ (Der Professor und der Patriarch) gestellt, das jetzt in Rom präsentiert wurde. Es handelt sich um den Dialog zwischen dem Ökumenischen Patriarchen Athenagoras und dem französischen orthodoxen Theologen Olivier Clement im Jahr 1968. Riccardi, der mit Clement freundschaftlich verbunden war, sagte bei der Präsentation, er habe bei der Abfassung des Buches „Nostalgie und Traurigkeit“ empfunden: „Nostalgie, weil ich auch heute noch nicht auf den ökumenischen Traum der Einheit des Christentums in einer zerrissenen Welt verzichtet habe und weil der Schrei des Patriarchen Athenagoras vor einer Globalisierung ohne Einheit der Kirchen gewarnt hat“. Clement sei vom Erlebnis des Jahres 1968 als „eines Festes des mystischen Atheismus“, der zur Zerstörung der „Institutionen der Tradition“ geführt habe, zutiefst betroffen gewesen. In diesem Augenblick habe der Theologe den großen Patriarchen getroffen, daraus sei eine tiefe spirituelle Freundschaft entstanden.

Der Konzilshistoriker Alberto Melloni, der heute an der Universität Modena-Reggio Emilia lehrt, sagte bei der Präsentation, das Jahr 1968, in dem „der Professor und der Patriarch“ einander begegneten, sei ein „theologisch sehr dichtes Jahr“ gewesen. In den Dialogen des Patriarchen mit dem Professor seien die Grundlagen für Begegnungen mit Repräsentanten des Katholizismus gelegt worden. Zugleich habe sich Patriarch Athenagoras als eine „zutiefst eucharistische“ Persönlichkeit erwiesen. Der Messkelch sei für ihn „das Herz der Kirche“ gewesen.

„Eine profunde Begegnung, aus der eine auch heute aktuelle Botschaft entsprungen ist“: So charakterisierte der an der Katholischen Universität Mailand lehrende Historiker Agostino Giovagnoli das von Andrea Riccardi beschriebene Treffen zwischen Patriarch Athenagoras und Olivier Clement in Konstantinopel im August 1968. Diese Begegnung sei nicht zufällig erfolgt. Das Erlebnis des französischen „Mai 1968“ habe Clement zur Reise an den Bosporus animiert. Damit werde deutlich, dass an 1968 noch vieles zu entdecken sei, wie etwa der „spirituelle Aspekt“. Zweifellos sei „1968“ eine atheistische Bewegung gewesen, aber eine Bewegung des „spirituellen Atheismus“. In der Ideenwelt von Olivier Clement gebe es eine „starke Kritik am Katholizismus“, der alles auf Moral reduziert und sich von den Armen entfernt habe, während die Orthodoxie die Tradition des „Festes und der Freiheit“ bewahren konnte, so Giovagnoli.

Kardinal Walter Kasper sagte bei der Präsentation des neuen Buches von Andrea Riccardi wörtlich: „Dieses Werk enthält eine Analyse von ‚1968‘, aber auch der gegenwärtigen Situation. Den eigentlichen Sinn dieses Werkes versteht man, wenn man den Untertitel in Betracht zieht: ‚Spiritueller Humanismus zwischen Nationalismus und Globalisierung‘“. Riccardi interpretiere den „Schmelztiegel“, aus dem die derzeitige europäische und ökumenische Situation entstanden sei. Seine Analyse zeige einige charakteristische Aspekte der gegenwärtigen Situation auf: Die Wurzeln sind abgeschnitten, viele Junge von heute verstehen die Sprache der Tradition nicht mehr, und die Protagonisten von damals wollten die Leere mit einem Gemisch aus Marx und Freud füllen, unter dem sich der Nihilismus versteckt. Für Kardinal Kasper bleibt nach der Lektüre eine „gewisse Traurigkeit“: Die ökumenische Situation habe sich – zumindest auf der offiziellen Ebene – nicht verbessert. Das Buch ende melancholisch, aber es bleibe ein Brosamen der Hoffnung: Der spirituelle Humanismus als einziger Weg in die Zukunft.

Auch Andrea Riccardi selbst stellte bei der Präsentation fest, dass die Lektüre seines Buches die Nostalgie nach einer Welt auslöse, „die noch träumen konnte, auch wenn die Einheit (der Christen) noch weit war“. Heute sei der Mangel an spiritueller und menschlicher Einheit zutiefst spürbar.

Den stärksten Eindruck machte bei der Präsentation die Stellungnahme der an der Gregorianischen Universität lehrenden Theologin Michelina Tenace. Sie sagte wörtlich: „Der ökumenische Traum ist nicht erloschen, weil es noch Leute gibt, die weiterhin träumen. Der Traum heißt Drittes Konzil von Nicäa im Jahr 2025, wenn alle Christen gemeinsam das 1.700-Jahr-Jubiläum des ersten wahrhaft ökumenischen Konzils feiern werden“. Im Buch Riccardis werde die Utopie einer erneuerten Einheit greifbar. Nur ein geeintes Christentum könne für die Welt von heute bedeutsam sein. Diese Utopie entspreche der Berufung der Kirche, so die Theologin.

Olivier Clement (1921-2009), der am Institut Saint- Serge in Paris lehrte, war einer der bedeutendsten orthodoxen Theologen des 20. Jahrhunderts. Er war ökumenisch eingestellt, befürwortete aber auch das Gespräch zwischen Christen und den Bekennern anderer Religionen sowie den Dialog zwischen den Kirchen und der Gegenwartsgesellschaft. Clement stammte aus einer agnostischen Familie in den Cevennen, einer französischen Landschaft, die immer eine Hochburg des Antiklerikalismus war. Nach einer langen spirituellen Suche entdeckte er mit 30 die Botschaft Jesu. Ausschlaggebend war die Lektüre der großen philosophisch-theologischen Autoren der russischen Emigration wie Nikolaj Berdjajew und Wladimir Losskij. Diese Lektüre erschloss ihm das Denken der Kirchenväter, er tat den entscheidenden Schritt und empfing die Taufe in der orthodoxen Kirche.

Als Professor an Saint-Serge wurde Clement eine der herausragenden Gestalten der orthodoxen Theologie im 20. Jahrhundert. Er veröffentlichte 30 Bücher über Leben, Denken und Geschichte der orthodoxen Kirche und ihre Begegnung mit den anderen Kirchen, mit den nichtchristlichen Religionen und mit der Welt von heute. Leben und Zeugnis der orthodoxen Kirche in Frankreich waren Clement ein besonderes Anliegen. Er inspirierte die Arbeit der „Orthodox Fellowship in Western Europe“ ab den frühen 1960er-Jahren und nahm aktiv an den regelmäßigen „Orthodoxen Christlichen Konferenzen“ in Westeuropa ab 1971 teil. Mit vielen orthodoxen, katholischen und evangelischen theologischen Denkern war Clement freundschaftlich verbunden.

In Erinnerung an den 10. Todestag des großen orthodoxen Theologen findet am 17./18. Mai am Institut Saint-Serge in Paris ein internationales Kolloquium statt. Unter dem Titel „Den Sinn der Kirche im Dialog mit der Welt von heute wiederentdecken“ legt das Kolloquium das theologische Werk von Olivier Clement dar.