Beirut: Hochspannung vor der Präsidentenrede

Katholische, orthodoxe und evangelische Bischöfe des Landes unterstützen im „Appell von Bkerke“ die breite Protestbewegung und formulieren Forderungskatalog an die „politische Klasse“: „Im Libanon findet nicht eine Revolte statt, es ist die Wiedergeburt des Vaterlandes“ – Auch der sunnitische Großmufti äußerte sich ähnlich

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Foto: © Heretiq (Quelle: Wikimedia, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 2.5 Generic)

Beirut, 24.10.19 (poi) In Beirut herrschte am Donnerstag Hochspannung im Hinblick auf die auf 13:30 Uhr Ortszeit verschobene Ansprache von Präsident Michel Aoun, von der ein Vorschlag zur Lösung der libanesischen Staatskrise erwartet wurde. Zuvor hatten die religiösen Führungspersönlichkeiten des Libanon – mit der bedeutsamen Ausnahme des schiitischen Großmuftis – ihre Unterstützung für die seit 17. Oktober in den Straßen Beiruts und anderer libanesischer Städte andauernden Bürgerproteste gegen Korruption und schlechte Regierungsführung bekundet. Besonders entschlossen zeigten sich am Mittwoch die am Sitz des maronitischen Patriarchen in Bkerke versammelten katholischen, orthodoxen und evangelischen Bischöfe; sie würdigten die “Einheit des Volkes“, verlangten den Schutz der „legitimen Revolte der Bürger“ und betonten, dass die Regierung rasch eine Antwort auf die Forderungen der Nation finden müsse. „Wir verstehen Euren Schrei“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der Bischöfe, die sich an die Adresse der Protestierenden richtet: „Wir unterstützen Eure Forderungen, denn Ihr habt mehr als eine Revolte zustandegebracht, es ist die Wiedergeburt des libanesischen Vaterlandes“. Die bischöfliche Erklärung nimmt auf den „außerordentlichen und exemplarischen“ Protest des Volkes Bezug, würdigt aber auch die Bemühungen des Regierungschefs Saad Hariri. Die von Hariri und der Regierung eingeleiteten Reformen seien „positiv, sie kommen aber spät“, vor allem müssten sie im Alltag „konkret angewendet“ werden.

Die Bischöfe üben Kritik an einer von „Klientelwirtschaft, Diebstahl und Korruption“ unterminierten staatlichen Verwaltung. Die Proteste seien Ausdruck des Bürgersinns und eine „beachtliche Anklagerede gegen Arbeitslosigkeit und Armut“. Die Bischöfe erinnern in ihrem “Appell von Bkerke“ daran, dass sie seit geraumer Zeit vor dem gewarnt hatten, was sich jetzt im Libanon ereignet, aber die Regierungen, die aufeinander gefolgt seien, hätten alle Appelle überhört. Die „politische Klasse“ des Landes wird von den Bischöfen scharf kritisiert, weil sie den Schmerz der leidenden Bevölkerung nicht rechtzeitig zur Kenntnis genommen hat.

Die bischöfliche Erklärung umfasst drei Appelle. Staatspräsident Aoun wird aufgefordert, „den Ernst der Ereignisse“, die „kein vorübergehendes Phänomen sein werden“, richtig einzuschätzen. Er müsse sofort die „notwendigen Konsultationen“ mit den führenden Politikern einleiten, um den „Forderungen des Volkes“ zu entsprechen. Die Verantwortlichen müssten ernsthafte, radikale und mutige Maßnahmen treffen, um das Land aus der Krise zu führen und sich „für die lebendigen Kräfte der Gesellschaft“ zu öffnen. Die Protestierenden werden aufgefordert, „die Reinheit der Bewegung und deren friedliche Seele zu bewahren“ und allen Versuchen zur Instrumentalisierung der Proteste zu widerstehen. Die Bewegung dürfe sich nicht in einen „Putsch“ verwandeln, der das demokratische Antlitz des Libanons entstellt. Damit die öffentliche Meinung auf der Seite der Protestierenden bleibe, sei die Freiheit der Bewegungsmöglichkeit und die Aufrechterhaltung der „Normalität des Lebens“ von wesentlicher Bedeutung. An die internationale Gemeinschaft erfolgt der Appell, die „erste Demokratie“ des Nahen Ostens und den „ersten Prozess der Partnerschaft zwischen Christen und Muslimen“ seit dem Ersten Weltkrieg weiterhin zu unterstützen. Präsident Aoun telefonierte am Mittwochabend mit dem maronitischen Patriarchen, Kardinal Bechara Boutros Rai, um ihm für die „ausgewogene Erklärung“ der Bischöfe zu danken, die „den Ereignissen gerecht“ werde. Aoun war bereits am Montagabend mit dem Kardinal-Patriarchen zusammengetroffen.

Der sunnitische Großmufti, Abd-el-Latif Deriane, richtete seinerseits an den Staat und dessen Institutionen die Aufforderung, den „berechtigten Anliegen“ der Manifestanten zu entsprechen. Der Libanon stehe vor einem „gefährlichen Wendepunkt“, der ernsthaft angegangen werden müsse, weil es um das wirtschaftliche und finanzielle System des Landes und die Bedrohung des würdigen Lebens der Bürger gehe. Auch der drusische Scheich Naim Hassan betonte, niemand habe das Recht, in einem „so kritischen Augenblick der Geschichte der Nation“ die Stimme des Volkes zu vernachlässigen oder zu unterschätzen.

Der Chef der libanesischen Caritas, P. Paul Karam, sagte im Gespräh mit der italienischen katholischen Nachrichtenagentur SIR, das Volk habe das Recht, angesichts von politischen Entscheidungen, die die einfachsten Menschenrechte missachten, seinen Dissens zum Ausdruck zu bringen. P. Karam machte sich den „Appell von Bkerke“ zu eigen, die Regierung in Beirut habe die Pflicht und die Verantwortung, Reformen und Veränderungen auf den Weg zu bringen, um dem Volk eine konkrete Antwort zu geben.  Das Volk müsse seinerseits seiner Geschichte treu bleiben und dürfe sich nicht zu gewalttätigen Haltungen hinreißen lassen, die leicht zu instrumentalisieren sind. Es gehe vielmehr darum, friedlich das zu verlangen, was recht ist: „Die Leute wollen Wasser- und Elektrizitätsversorgung, öffentliche Verkehrsmittel, Bildung und Krankenversorgung, Sozialversicherung und Gerechtigkeit, Prozesse gegen die Diebe und Korruptionisten vor unabhängigen Gerichten und Rückgabe des Gestohlenen“. Ein Chaos zu provozieren, würde den Libanon in eine Sackgasse führen. Der Caritas-Präsident urgierte zugleich, dass die internationale Gemeinschaft endlich den Libanon bei der Aufnahme der syrischen Flüchtlinge (derzeit halten sich 1,5 Millionen von ihnen in der Zedern-Republik auf) zu unterstützen.  P. Karam betonte, dass aber die Würde der syrischen Flüchtlinge respektiert werden müsse.

Der Caritas-Präsident warnte vor einem „politischen Leerlauf“, wie es ihn schon in den zweieinhalb Jahren vergeblicher Versuche zu Wahl eines Präsidenten gegeben hatte. Es gehe darum, im Dialog Auswege aus der Situation zu finden, damit sich nicht Gruppierungen und Personen breit machen können, denen das Wohl des Landes nicht am Herzen liegt. Jegliche politische oder religiöse Instrumentalisierung der Protestbewegung müsse vermieden werden.