Die Kirche hat ihr Urteil über die Oktoberrevolution abgegeben

Metropolit Hilarion verweist in TV-Interview auf die Heiligsprechung der Märtyrer der kommunistischen Kirchenverfolgung

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Foto ©: Uwe und Daniela Wolff (Quelle: Wikimedia, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Generic)

Moskau, 13.11.17 (poi) Die russische Kirche habe ihr Urteil über die Oktoberrevolution abgegeben, „indem sie im Jahr 2000 mehr als 1.000 Neumärtyrer heilig gesprochen hat und in den letzten 17 Jahren noch weitere 1.000“: Dies betonte der Leiter des Außenamtes des Moskauer Patriarchats, Metropolit Hilarion (Alfejew), in einem Interview mit dem TV-Sender „Rossija 24“. „Es waren einfache Gläubige, Mönche und Nonnen, Priester und Bischöfe, die von der sowjetischen Geheimpolizei erschossen wurden“, fügte der Metropolit hinzu. Es habe sich um die tragischesten Ereignisse der russischen Geschichte gehandelt, die heute von verschiedenen Standpunkten aus beurteilt würden, „sowohl was die eigentlichen revolutionären Ereignisse angeht, als auch im Hinblick auf die nachfolgende Entwicklung“. Die Kirche habe jedenfalls mit Klarheit kundgetan, wer die Opfer waren und wer die Täter. Wenn sich die Macht der Menschen bewusst und offen gegen Gott richte, bedeute das, dass diese Macht nicht von Gott kommt und dass die Menschen, die ihr dienen, nicht den Willen Gottes erfüllen, betonte Metropolit Hilarion.

Der Leiter des Außenamtes des Moskauer Patriarchats erinnerte daran, dass sich Russland vor den revolutionären Umbrüchen auf einem „Weg der Reformen“ befunden habe und über ein großes Entwicklungspotenzial verfügte. Er nahm damit indirekt auf ein Narrativ Bezug, das sich sowohl in der „weißen“ Emigration seit jeher großer Beliebtheit erfreute als auch schon von Wladimir Putin und Dimitrij Medwedew bemüht wurde: Der außerordentliche wirtschaftliche Aufbruch Russlands vor dem Ersten Weltkrieg im Zeichen der Reformen der Politiker Sergej J. Witte und Pjotr A. Stolypin. Metropolit Hilarion verwies darauf, dass in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg viele Maßnahmen, die dann Lenin auf das Haben-Konto geschrieben wurden, bereits im Detail geplant waren, so etwa die Elektrifizierung des Landes. Wenn sich Russland „evolutionär, nicht revolutionär“ entwickelt hätte, wäre viel mehr zu erreichen gewesen.

Grundsätzlich hielt der Metropolit fest, dass die Probleme der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung durch reformorientierte Veränderungen, nicht aber durch Revolutionen gelöst werden müssen. Auch heute müsse man sich die Frage stellen, welchen Sinn es habe, „die Autorität wanken zu lassen, Leute hereinzulassen, die mit ausländischem Geld Umstürze zustande bringen, um an die Macht zu kommen, dann allen das Glück versprechen, aber in Wahrheit alle unterdrücken, wie es die Bolschewiken getan haben“.
Andere Akzente setzte wenige Tage später der erste stellvertretende Vorsitzende der Synodal-Abteilung für die Beziehungen zwischen Kirche, Gesellschaft und Medien, Aleksander Schtschipkow. In einem Vortrag in der Bibliothek für Ausländische Literatur in Moskau meinte er, die Sowjetunion habe das Versprecher ihrer Gründer erfüllt, die soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen. Vor dem Ende der Sowjetära sei ein „Sozialstaat“ aufgebaut gewesen, „nicht perfekt, sondern krumm, aber immerhin“. Schtschipkow nahm u.a. auf die Gratis-Bildung, den Gratis-Zugang zum Gesundheitswesen und die soziale Gleichheit Bezug. Durch „harte Arbeit“ sei es trotz Blutvergießen, Leiden, Armut, Hunger gelungen, diesen Sozialstaat aufzubauen. Das Paradox sei, dass er kollabierte, sobald er fertiggestellt war. Als einen Hauptfaktor für den Kollaps bezeichnete Schtschipkow die jahrzehntelange „systematische Negierung der Tradition als eines wichtigen Bestandteils der russischen Identität“.
Zur umstrittenen Frage der Beisetzung Lenins sagte Schtschipkow, dass die derzeitige Situation mit dem einbalsamierten Leichnam im Mausoleum auf dem Roten Platz vom „humanen, christlichen und politischen Standpunkt“ aus schlecht sei. Er trete zwar für die Beisetzung des Leichnams ein, aber wahrscheinlich sei es klüger, ein Moratorium von fünf bis zehn Jahren zu vereinbaren, um nicht neue Gräben aufzureißen.