„Eine Million Christen haben in den letzten Jahren den Irak verlassen“

Nüchterne Bilanz des chaldäisch-katholischen Kardinal-Patriarchen Mar Louis Raphael Sako zum sechsten Jahrestag seiner Wahl – Sorge über die demographische Entwicklung in der Ninive-Ebene

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Foto: © Österreichisches Außenministerium (Quelle: Wikimedia, Lizenz: Creative Commons Attribution 2.0 Generic)

Bagdad, 01.02.19 (poi) In den letzten Jahren haben rund eine Million Christen den Irak verlassen. Daran erinnerte der chaldäisch-katholische Patriarch, Kardinal Mar Louis Raphael Sako, am Donnerstag aus Anlass des sechsten Jahrestages seiner Wahl zum Patriarchen. Der Patriarch beschrieb die Probleme, Schwierigkeiten, Initiativen und Hoffnungen, die den Weg der chaldäischen Kirche in den letzten Jahren geprägt haben. Mar Louis Raphael Sako hob das traumatische Geschehen um die Flucht der Christen aus Mosul und den Orten der Ninive-Ebene nach der Eroberung durch die IS-Terroristen im Jahr 2014 hervor. Unter pastoralem und materiellem Gesichtspunkt habe die Kirche bei der Begleitung von Zehntausenden von Flüchtlingen und Vertriebenen ungeheure Schwierigkeiten zu überwinden gehabt.

Der Patriarch erwähnte aber auch die Kampagnen im Zeichen von Anstiftung zu Hass und Gewalt gegen die Christen und die unrechtmäßige Inbesitznahme von Häusern und anderen Immobilien emigrierter Christen in Bagdad und anderen irakischen Städten sowie die problematischen Beziehungen zu „einigen christlichen Politikern, die ihre persönlichen Interessen verfolgen ohne den allgemeinen Willen der Christen zu berücksichtigen“. Als positive Zeichen nannte der Patriarch die Zurückdrängung der IS-Terroristen, die Erneuerung der Liturgie, die Gründung der „Chaldäischen Liga“, die Umstrukturierung der Finanzen des Patriarchats und die Schaffung eines interreligiösen Komitees für den Dialog mit Sunniten, Schiiten, Jesiden und Mandäern, um gemeinsam den Extremismus zu bekämpfen . Kritik am Patriarchat komme vor allem von Leuten, die „das Wiedererwachen der chaldäischen Kirche und ihre herausragende Rolle sowohl im Irak als auch global trotz aller Herausforderungen der letzten sechs Jahre“ nicht ertragen können.

Sorge über die demographische Entwicklung in der Ninive-Ebene wurde in den letzten Tagen auch von der “Gesellschaft für bedrohte Völker” geäußert. Der Sprecher der in Göttingen beheimateten NGO, Kamal Sido, verwies darauf, dass sich nach der Vertreibung der IS-Terroristen 2016 immer mehr Muslime in der Ninive-Ebene ansiedeln. Besonders betroffen seien vor dem IS-Überfall ganz christlich geprägte Gemeinden wie Bartella. Die “Gesellschaft für bedrohte Völker” appellierte an die irakische Zentralregierung in Bagdad und an die kurdische Regionalregierung in Erbil, endlich eine Einigung über die administrative Zuordnung der umstrittenen Gemeinden in der Ninive-Ebene herbeizuführen.

Die Ninive-Ebene war bis zum Eindringen der IS-Terroristen eine jener irakischen Regionen, in denen die Christen syrischer Tradition in relativer Ruhe und Frieden leben konnten. Im Jänner 2014 stellte der Ministerrat in Bagdad die Weichen für die Schaffung einer semi-autonomen Provinz in der Ninive-Ebene, wegen des Überfalls der IS-Terroristen kam es aber zu keinen praktischen Schritten. Nach Angaben des “Assyrian Policy Institutes” sind nach der Vertreibung der Terroristen rund 50 Prozent der christlichen Bevölkerung wieder in ihre Heimatorte zurückgekehrt, es gebe aber “beunruhigende Signale für eine demographische Veränderung”. Führende Christen befürchten, dass die Gemeinschaft der Schabak – einer synkretistischen religiösen Gruppe im nördlichen Irak – die nach wie vor bestehende politische Instabilität in der Ninive-Ebene benützen will, um ihre Position in Städten wie Bakhdida (Qaraqosh) oder Bartella zu verstärken. Als Alarmzeichen wurde ein Vorstoß des schabakischen Parlementsabgeordneten Qusay Abbas Mohammed gewertet, der für die Verteilung von “öffentlichem Land” an schabakische Familien in der Ninive-Ebene eingetreten ist. Auch der Bau des neuen Wohnviertels Sultan City in Bartella – mit relative teuren Eigentumswohnungen, die sich nur zugezogene Schabakis oder Muslime leisten können – hat in christlichen Kreisen Unbehagen ausgelöst, desgleichen die Präsenz einer schabakischen Brigade in den schiitisch dominierten “Volksbewegungs-Einheiten” (“al-Hashd al-Scha’bi”), die mit der irakischen Armee in der Ninive-Ebene angekommen sind.

Viel dramatischer als das „Assyrian Policy Institute“ zeichnete Dindar Zebari, Koordinator für internationale Hilfe der kurdischen Regionalregierung, die Situation der christlichen Rückkehrer in die Ninive-Ebene. Freilich spiegelte sich in seinen Angaben auch die Auseinandersetzung zwischen Bagdad und Erbil über die Kontrolle der Ebene. Für einige Bereiche, die sich in den Händen lokaler Milizen befänden, etwa Telkaif oder Hamdaniya, nannte Zebari eine Rückkehrerquote von nur 20 Prozent. Bei den lokalen Milizen handle es sich um autonome bewaffnete Gruppen, die weder der irakischen Armee noch den kurdischen Pesh Merga angehören. Als Gründe für die geringe Rückkehrer-Quote in den von diesen Gruppen kontrollierten Gebieten nannte Zebari die Furcht vor Gewalt und Vergeltungsmaßnahmen, die mangelnden Arbeitsmöglichkeiten und die fehlende Infrastruktur. Außerdem gebe es Fälle, dass Grund- und Immobilienbesitz christlicher oder jesidischer Besitzer konfisziert worden sei, um das demographische Gleichgewicht der Region zu verändern.

Der syrisch-orthodoxer Erzbischof von Mosul und Kirkuk, Nicodemus Daoud Sharaf, hatte am vergangenen Samstag, 26. Jänner, bei der Eröffnung der neuen erzbischöflichen Residenz in Erbil – in Anwesenheit von drei Patriarchen – an das Verantwortungsbewusstsein der irakischen Regierung hinsichtlich des Wiederaufbaus und der Wiederbesiedlung von Mosul und der Orte in der Ninive-Ebene appelliert. Der Erzbischof beklagte in diesem Zusammenhang auch den schleppenden Wiederaufbau der vielen Kirchen, die in der Zeit des IS-Terrors zerstört oder verwüstet worden waren. Er bezeichnete die „Korruption“ des irakischen politischen Apparats als Schlüsselfaktor der mangelnden Bereitschaft zur Förderung der Rückkehr von geflüchteten oder vertriebenen Christen in ihre Heimatorte. Der syrisch-orthodoxe Patriarch Mor Ignatius Aphrem II. dankte bei der Eröffnung der erzbischöflichen Residenz aber ausdrücklich der kurdischen Regionalregierung und dem in Großbritannien beheimateten „Barnabas Fund“ für die großzügige Unterstützung beim Bau des neuen Diözesanzentrums.