Wien-Minsk, 06.10.17 (poi) Zum Gedenken an die von den NS-„Behörden“ am 5. Oktober 1942 nach Weißrussland deportierten und dort in Maly Trostinec bei Minsk ermordeten jüdischen Wienerinnen und Wiener fand am Donnerstag der 10. „Marsch für Tausend“ statt. Wie bei einem Begräbnis zogen zahlreiche Menschen vom einstigen Sammellager in der Kleinen Sperlgasse 2a in der Leopoldstadt zum Mahnmal auf dem Judenplatz in der Inneren Stadt, wo die Namen jener 1.000 Opfer verlesen wurden, die man am 5. Oktober 1942 nach Weißrussland deportiert hatte. Der wissenschaftliche Leiter des „Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands“, Gerhard Baumgartner, hielt im Anschluss im Alten Rathaus einen Vortrag unter dem Titel „Alles gesehen – nichts gewusst“ (auf der Website des Dokumentationsarchivs sind unter dem Titel „Deportation Wien – Maly Trostinec 1942“ präzise Informationen über das durchgeplante NS-Verbrechen und erschütternde Berichte über einzelne Schicksale abrufbar). Zu den zehn „Märschen für Tausend“ hatte der von Waltraud Barton begründete Verein „IM-MER“ (Maly Trostinec erinnern) eingeladen. Waltraud Barton erinnerte daran, dass der Nationalrat am 13. Oktober 2016 einstimmig die Bundesregierung beauftragt hat, ein würdiges Grab- und Mahnmal für die in Maly Trostinec ermordeten jüdischen Wienerinnen und Wiener zu errichten. Bisher sei aber nichts geschehen. Auch die vom Wiener Bürgermeister Michael Häupl bereits 2015 gegebene Zusage blieb folgenlos. Der Vizepräsident der Kardinal-König-Stiftung, Erich Leitenberger, stellte am Donnerstag fest, 75 Jahre nach dem heimtückischen Massenmord in Maly Trostinec sei es höchste Zeit, den Opfern der NS-Mordmaschinerie, die „unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger waren“, wenigstens die Ehre würdigen Gedenkens zu erweisen.
Zwischen dem 28. November 1941 und dem 5. Oktober 1942 wurden – so Waltraud Barton – vom damaligen Aspangbahnhof aus jeweils 1.000 Österreicherinnen und Österreicher, die nach den in den sogenannten „Nürnberger Rassengesetzen“ niedergelegten NS-Fantasien als „jüdisch“ galten, nach Maly Trostinec in den Tod geschickt. An keinem anderen Ort wurden so viele österreichische Menschen von den Nationalsozialisten als Opfer der Shoah ermordet wie in dem kleinen Dorf unweit der weißrussischen Hauptstadt Minsk. Aber bis heute haben sie dort kein Grab. Waltraud Barton: „Ohne Grabmal, auf dem ihre Namen stehen, bleiben sie die, zu denen man sie vor 75 Jahren gemacht hat: Ausgestoßene. Aber sie müssen endlich wieder zu einem Teil der österreichischen Gesellschaft werden. Und solange dort, wo sie ermordet wurden, nichts an sie und ihren gewaltsamen Tod erinnert, ist es so, als hätte es sie, aber auch die Verbrechen an ihnen gar nicht gegeben. Das dürfen wir nicht zulassen“. Der Verein „IM-MER“ hat heuer an allen Jahrestagen der Deportationen einen „Marsch für Tausend“ durchgeführt; besonders ergreifend war der Marsch am 14. September. Denn am 14. September 1942 waren unter den Deportierten so viele Kinder, Buben und Mädchen aus den Kinderheimen Grünentorgasse 26 und Haasgasse 10. (Infos: Waltraud Barton, Verein IM-MER: Tel.: 0664/401 15 11, E-Mail: waltraud.barton@IM-MER.at oder waltraud.barton@chello.at; Internet: www.IM-MER.at).
In Maly Trostinec wurden vermutlich von den deutschen Besatzern insgesamt rund 60.000 Menschen ermordet. Ein erheblicher Prozentsatz der Opfer waren aus Österreich. Von den mehr als 10.000 per Bahn vom Aspangbahnhof nach Maly Trostinec deportierten Wienerinnen und Wienern überlebten nur 17. Der lange Bahntransport sollte die Menschen irreleiten, es wurde ihnen eingeredet, sie könnten sich „im Osten“ eine „neue Existenz“ aufbauen. Auf dem Bahnhof von Wolkowisk (271 Kilometer vor Minsk, eine der ältesten weißrussischen Städte) mussten die Deportierten die Personenzüge verlassen, anschließend wurden sie in Viehwaggons verladen. In Maly Trostinec wurden sie, nachdem sie ausgestiegen waren, sofort auf Lastwagen verfrachtet und an einer geheimen Mordstätte im Wald von Blagowschtschina, wo es eine schwer einsehbare Lichtung gab, erschossen, später auch in Gaswagen erstickt.
Der Wald von Blagowschtschina gehörte zu einer ehemaligen Kolchose, die von der NS-deutschen sogenannten „Sicherheitspolizei“ beschlagnahmt worden war. Die NS-Schergen richteten auf der Kolchose, die über einen Bahnanschluss verfügte, ein Zwangsarbeitslager ein; zugleich erschienen ihnen die Lichtung im Wald für ihre Mordpläne geeignet. Insgesamt waren für 1942 18 Deportationszüge aus Wien geplant, in denen man unterschiedslos Männer, Frauen und Kinder zusammenpferchte. Um die Täuschung zu stärken, mussten die Deportierten Gepäck mit sich führen. Der erste Deportationszug verließ den (heute nicht mehr bestehenden, aber auch damals abseits gelegenen) Aspangbahnhof am 28. November 1941. Die Aktenlage über Maly Trostinec ist schütter und besteht vor allem aus Prozessakten gegen deutsche Täter. Aus diesen Akten geht nach den Erhebungen der Historikerin Barbara Rentrop hervor, dass unter den Mördern relativ viele Österreicher waren. Als die sowjetischen Einheiten vorrückten, begannen die Täter in Maly Trostinec die Spuren zu verwischen und alles schriftliche Beweismaterial zu vernichten. Das NS-Inferno von Minsk endete am 3. Juli 1944 mit der Befreiung der fast zur Gänze zerstörten Stadt durch die Rote Armee.
Kardinal Christoph Schönborn hat bei seiner Weißrussland-Visite im Juli des Vorjahrs auch Maly Trostinec besucht. Der Wiener Erzbischof war „zutiefst erschüttert“ über die Gedenkstätte. „Die Erinnerung an die vom NS-Regime in Maly Trostinec ermordeten Wienerinnen und Wiener muss bewahrt bleiben“, sagte er im Gespräch mit der katholischen Nachrichtenagentur „Kathpress“. In Minsk besuchte der Kardinal auch die von Pfarrer Fjodor Pownyi betreute orthodoxe Allerheiligenkirche, wo in der Unterkirche eine Gedenkstätte für die Opfer von Maly Trostinec eingerichtet wurde. Er legte dort Blumen nieder und sprach ein Gebet.
Im November 2015 besuchte eine hochrangige ökumenisch und interreligiös besetzte Delegation aus Weißrussland Österreich, um über die Pläne zum Ausbau der Gedenkstätte in Maly Trostinec zu informieren. Die weißrussische Delegation wurde vom katholischen Erzbischof Tadeusz Kondrusiewicz von Minsk geleitet. Der Delegation gehörte u.a. auch die stellvertretende Vorsitzende des Verbandes der weißrussischen jüdischen Organisationen, Galina Lewina, an. Der Eisenstädter Diözesanbischof Ägidius Zsifkovics betonte damals die Notwendigkeit der Aufarbeitung von unbewältigter Vergangenheit, das gelte für Individuen wie für ganz Europa als Wertegemeinschaft. Zsifkovics: „Die humanen Herausforderungen der Gegenwart, wie etwa die aktuelle Flüchtlingskrise, werden wir nicht nachhaltig lösen können ohne die europäischen Erinnerungslücken, die es immer noch gibt, zu schließen“.
Zwischen den Ereignissen von damals und heutigem menschlichen Versagen, das zu den Katastrophen von morgen führt, gebe es einen roten Faden. Eine Gedenkstätte wie Maly Trostinec sei daher „kein Vergangenheits-, sondern ein Zukunftsprojekt“, es sei „im Letzten überhaupt kein Bauprojekt, sondern Katalysator eines Bewusstseins- und Verständigungsprozesses und somit essenzieller Bestandteil einer unverzichtbaren europäischen Erinnerungskultur“, so der Bischof.
Der Wiener orthodoxe Metropolit Arsenios (Kardamakis) würdigte ebenfalls das Projekt. Er betonte, dass jede Form von Fanatismus und Nationalismus zu verurteilen sei und sich Ereignisse wie jene von Maly Trostinec nie mehr wiederholen dürfen. Es gelte besonders aus christlicher Sicht, auf das Gedenkstätten-Projekt und damit auf das ungehörte Leid so vieler Menschen aufmerksam zu machen.
Erzbischof Kondrusiewicz dankte für die Unterstützung aus Österreich und erinnerte an das Wort von Johannes Paul II., dass die Kirche mit den „zwei Lungenflügeln“ der westlichen und östlichen christlichen Tradition atmen müsse. Die Gedenkstätte „an einem Ort, wo Angehörige verschiedenster Glaubensrichtungen zu Tode gekommen sind“, werde dieses gemeinsame Atmen widerspiegeln, zeigte sich der Vorsitzende der weißrussischen Bischofskonferenz überzeugt. Mit den Arbeiten am Memorialkomplex Maly Trostinec wurde bereits im Sommer 2015 begonnen. Erzbischof Kondrusiewicz: „Es geht um einen Dialog zwischen den Opfern und der Welt, der in die Zukunft weist und bewirkt, dass sich Vergangenes nicht wiederholt. Das geht uns alle an!“ Deshalb solle das Projekt auch auf internationale Beine gestellt werden.