Hochrangiges Treffen über Situation der Christen im Nahen Osten am Rand der OSZE-Konferenz

Experte aus dem Außenamt des Moskauer Patriarchats analysierte vor den Außenministern Russlands, Ungarns und des Vatikans die Entwicklung in Syrien – “Gemeinsame Erklärung von Papst Franziskus und Patriarch Kyrill durchbrach die Medienblockade gegen das Thema Christenverfolgung”

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Foto ©: Andrew Bossi (Quelle: Wikimedia, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 2.5 Generic)

Wien-Moskau, 10.12.17 (poi) Die Situation der Christen im Nahen Osten stand im Mittelpunkt eines auf Initiative von Russland und Ungarn zustande gekommenen hochrangigen Treffens am Rande der OSZE-Außenministerkonferenz in der Wiener Hofburg, wie aus einem Bericht des Außenamts des Moskauer Patriarchats hervorgeht. Unter den Teilnehmern waren u.a. der russische Außenminister Sergej Lawrow, sein ungarischer Amtskollege Peter Szijjarto, der vatikanische “Außenminister”, Erzbischof Paul Gallagher, der chaldäisch-katholische Patriarch Mar Louis Raphael Sako und die für Diskriminierungsfragen zuständige Repräsentantin von Außenminister Sebastian Kurz in dessen Funktion als OSZE-Vorsitzender, Prof. Ingeborg Gabriel.

Im Auftrag des Leiters des Außenamtes des Moskauer Patriarchats, Metropolit Hilarion (Alfejew), legte P. Stefan Igumnow eine Analyse der Situation der Christen im Nahen Osten vor. P. Igumnow betonte, dass die Kooperation mit den orientalischen Kirchen für die russisch-orthodoxe Kirche im Sinn einer jahrhundertelalten Tradition seit jeher eine Verpflichtung war. Am Vorabend des sogenannten “Arabischen Frühlings” habe Patriarch Kyrill I. ab 2009 einerseits seine Besuchstätigkeit im Nahen Osten intensiviert, andererseits seien viele Patriarchen aus diesem Raum nach Moskau gekommen. Dadurch habe das Moskauer Patriarchat immer über Informationen aus erster Hand verfügt.

Der Experte aus dem kirchlichen Außenamt erinnerte daran, dass Patriarch Kyrill nach der Rückkehr von seiner letzten Syrien-Reise sofort an die Weltöffentlichkeit appelliert hatte, die neue Christenverfolgung durch islamistische Gruppen zu stoppen und die christliche Präsenz in den nahöstlichen Ländern zu erhalten, ohne die Geschichte und Zukunft des Christentums undenkbar sind. Während die westliche Öffentlichkeit das Problem lange Zeit ignoriert habe, sei der Heilige Stuhl sofort tätig geworden. Die gemeinsame Erklärung von Papst Franziskus und Patriarch Kyrill im Februar 2016 in Havanna habe dann die Medienblockade gegen das Thema Christenverfolgung gebrochen, seither stehe dieses Thema auf der Weltagenda. Schon zuvor sei sehr wichtig gewesen, dass im März 2015 insgesamt 65 Staaten einer gemeinsamen Initiative Russlands, des Libanons und des Heiligen Stuhls in Sachen Situation der Christen im Nahen Osten beigetreten seien. Auch dabei habe das Moskauer Patriarchat mitgewirkt.

Zusammen mit der moralischen Unterstützung habe die russisch-orthodoxe Kirche in all den Jahren aber auch humanitäre Hilfe für Syrien organisiert. Praktisch jede russische Pfarre und jedes Kloster habe an dieser Hilfstätigkeit mitgewirkt, die auch vom russischen Staat und der Zivilgesellschaft unterstützt worden sei. Im heurigen Frühjahr sei dann in Russland eine interreligiöse Arbeitsgruppe eingesetzt worden, sodass jetzt russische christliche und islamische Gemeinschaften gemeinsam finanzielle Mittel aufbringen, humanitäre Hilfe für Syrien organisieren und mithilfe von christlichen und islamischen religiösen Einrichtungen im Empfängerland die Hilfsgüter direkt jenen zukommen lassen, die sie am notwendigsten brauchen. Als Kollateraleffekt habe diese gemeinsame humanitäre Aktivität auch zu einer Intensivierung der ökumenischen und interreligiösen Zusammenarbeit in Syrien geführt.

P. Igumnow verwies auch darauf, dass unmittelbar nach dem Havanna-Treffen eine gemeinsame orthodox-katholische Delegation Syrien und den Libanon besuchte, um sowohl die Flüchtlingssituation als auch die Schäden an Kirchen und Klöstern zu erfassen. Demnächst werde der erste Teil eines umfassenden Katalogs über die seit 2011 zerstörten Kirchen in Syrien veröffentlicht werden. Die große Aufgabe der humanitären Hilfe und des Wiederaufbaus in Syrien könne niemand allein erfüllen, daher appelliere die russisch-orthodoxe Kirche an die internationale Gemeinschaft, sich an dieser Anstrengung zu beteiligen.

Prof. Gabriel: “Religiöser Genozid”

Prof. Gabriel betonte bei dem Treffen in der Wiener Hofburg, dass die kriminellen Akte gegen Christen und christliche Gemeinschaften im Nahen Osten in den letzten Jahren dramatisch zugenommen haben. Christen seien freilich nicht die einzigen, die von den islamischen Fundamentalisten aufs Korn genommen wurden: Als “Ungläubige” würden von den Fundamentalisten auch Juden, Jeziden, Agnostiker und nicht zuletzt gemäßigte Muslime angesehen. Aber die Situation der Christen sei im Nahen Osten schon vor dem Auftauchen der IS-Terroristen schwierig gewesen. Aus “geopolitischen” und anderen Gründen habe diese Not der Christen und der Angehörigen anderer religiöser Minderheiten nicht die entsprechende Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft erhalten.

In diesem Zusammenhang spiele die Unwissenheit eine Rolle, sagte Prof. Gabriel. Sie erwähnte, dass der Autor eines Artikels über den Protestantismus (aus Anlass des 500-Jahr-Gedenkens der Reformation) in einer international bedeutenden Publikation (“Economist”) davon schrieb, dass 40 Prozent der Christen Protestanten seien, der Rest sei römisch-katholisch. Die orthodoxen und orientalisch-orthodoxen Christen kamen nicht vor; vielleicht habe der Autor nicht einmal gewusst, dass diese Christen seit der Zeit Jesu Christi vor 2.000 Jahren im Nahen Osten leben. Diese Spielart der Unwissenheit sei nicht selten und das habe “politische Konsequenzen”, betonte die Wiener Sozialethikerin.

Im Nahen Osten gebe es seit Jahren Einschüchterungen, Entführungen, Terror und Zwangskonversionen – mit anderenWorten eine “Strategie der religiösen ‘Säuberung’” , die sich gegen Christen und die Angehörigen anderer religiöser Minoritäten richte. In der Konsequenz sinke die Zahl der Christen. Viele, die geblieben sind, hätten nur einen Wunsch, die Emigration, unterstrich Prof. Gabriel unter Zitierung eines Freundes aus Amman. Wie immer seien die von den Extremisten aufs Korn genommenen Opfer vor allem die Schwächsten gewesen, Frauen, Mädchen, Kinder. Eine jesidische Frau – Nadia Murad – habe mit Hilfe eines britischen Anwalts in einem jüngst erschienenen Buch die verabscheuungswürdigen Verbrechen beschrieben, denen sie ausgesetzt war. Es sei zu hoffen, dass dieses Zeugnis allgemein gelesen und ergänzt wird, da doch so viele christliche Frauen und Mädchen ähnlichen Torturen erlebt hätten. Es sei notwendig, dass der Druck wächst, diese geschlechtsbezogenen Verbrechen ebenso wie Verbrechen gegen religiöse Gruppen streng zu verurteilen. Dabei gehe es nicht nur um eine eminent humanitäre Frage, sondern um weitreichende und langfristige politische Konsequenzen.

Zunächst müsse anerkannt warden, dass das, was im Nahen Osten geschehen ist, ein “Genozid aus religiösen Gründen” war, unterstrich die Repräsentantin des OSZE-Vorsitzenden. Einige politische Körperschaften hätten sich bereits in diesem Sinn ausgesprochen, andere sollten folgen. Es müsse aber auch klar sein, dass die Vernichtung der religiösen Minoritäten im Nahen Osten nur gestoppt werden kann, wenn den Mitgliedern aller Religionsgemeinschaften – anstelle des traditionellen Status der “geschützten Minderheiten” – gleiche Bürgerrechte auf der Basis der Menschenrechte – einschließlich der Religionsfreiheit – garantiert werden. Zunehmend gebe es Stimmen aus der Arabischen Welt in diesem Sinn (etwa auch von Al-Azhar im Zusammenhang mit dem Besuch von Papst Franziskus), das sei ein Zeichen der Hoffnung. Bei einer von der griechischen Regierung organisierten hochrangigen Konferenz in Athen im Oktober (“Religiöser und kultureller Pluralismus und friedliche Koexistenz im Nahen Osten”) habe sie selbst erleben können, wie religiöse und nichtreligiöse Akteure darüber diskutierten, wie eine solche neue gesellschaftliche Ordnung aussehen könnte. Es sei notwendig, Allianzen zwischen gemäßigten religiösen und nichtreligiösen Kräften sowohl in Europa als auch in der islamischen Welt auf allen Ebenen durch interkulturellen und interreligiösen Dialog zu fördern, um Terror in all seinen Formen als “schlimmste Blasphemie, die dem Glauben an Gott nicht dient, sondern ihn zerstört” zu verurteilen, stellte Prof. Gabriel fest.

Ebenso seien verstärkte Bildungsanstrengungen, vertiefte theologische Studien und mehr Begegnungen notwendig, sagte die Wiener Sozialethikerin. Dabei müsse man sich vor Augen halten, dass IS und andere radikale Gruppen sich nicht als Verbrecherbanden sehen, sondern ihre Aktionen wie Sex-Sklaverei und Verfolgungen theologisch zu legitimieren suchen. Umso notwendiger sei es, allen verständlich zu machen, dass der Zwiespalt zwischen Religionen und Menschenrechten – als eine universale Form der Gerechtigkeit – überbrückt werden muss.

Im Hinblick auf all dies sei es dringend notwendig, die Zusammenarbeit mit den sogenannten “Partnerländern” der OSZE (vor allem Staaten am Süd- und Ostufer des Mittelmeers) zu intensivieren.