Wien, 21.11.17 (poi) Noch ist es zu früh, ernsthaft über Wiederaufbau zu reden, auch wenn sich die Lage im Nahen Osten, in Syrien und im Irak, beruhigt zu haben scheint: Dies betonten übereinstimmend der Salzburger Theologe und Ostkirchenexperte (sowie Vorsitzende der Salzburger „Pro Oriente“-Sektion), Prof. Dietmar W. Winkler, und der Leiter der Auslandshilfe der Caritas Salzburg (und Nahost-Koordinator der Caritas Österreich), Stefan Maier, am Montagabend in Wien bei einer Informationsveranstaltung von „Pro Oriente“ über die Situation im Nahen Osten. Worauf es jetzt ankomme, sei einerseits, die komplexen Ursachen und politischen Mechanismen der Nahostkrise besser zu verstehen (Winkler) und andererseits die humanitäre Hilfe für die Opfer der Krise – auch angesichts des bevorstehenden Winterbeginns – zu verstärken (Maier). Zugleich betonten Winkler und Maier die hohe „politische und kirchliche Verantwortung“ der westlichen Welt, wenn der Friede im Nahen Osten wieder eintreten sollte. Die Christen hätten ein Recht darauf, als gleichberechtigte Bürger in ihrer Heimat zu leben.
Prof. Winkler schilderte die Entwicklung im Libanon, im Irak und in Syrien. Der Libanon habe am Ende des französischen Mandats (1943/46) je 50 Prozent Christen und Muslime gehabt. Seither habe sich das Verhältnis zugunsten der Muslime verschoben (obwohl nie mehr eine Volkszählung durchgeführt wurde), sodass in maronitischen Kreisen schon erwogen wurde, die Millionen von Auslands-Maroniten in Süd- und Nordamerika, Australien und Afrika mit libanesischen Pässen auszustatten. Tatsache sei, dass die heikle Balance im Libanon nicht aus dem Ausland gestört werden dürfe.
Im Irak habe es zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den damaligen mesopotamischen Provinzen des Osmanischen Reiches noch 35 Prozent Christen gegeben, erinnerte Prof. Winkler, der die mesopotamische Christenheit aus eigener Anschauung hervorragend kennt. Im Zuge der Kriege ab 1980 – 1980/88 Krieg mit dem Iran, 1990/91 Kuwait-Krieg, 2003 Einmarsch der US-Amerikaner und ihrer Verbündeten – habe die Emigrationsbewegung der Christen stark zugenommen. Im Jahr 2005 seien etwa allein im Zeitraum Februar bis April 70.000 Christen aus dem Irak emigriert.
Syrien – wo es zu Beginn des Krieges 2011 noch zehn Prozent Christen gab – sei mittlerweile zum Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen den Regionalmächten Saudiarabien und Iran geworden, in der sich der religiöse Zwiespalt zwischen sunnitischen (Saudiarabien) und schiitischen (Iran) Muslimen spiegle, sagte der Salzburger Ostkirchenexperte. Aus dem anfänglichen Bürgerkrieg nach der Reaktion des Assad-Regimes auf die Demonstrationen von Jugendlichen in Dera’a sei längst ein Krieg geworden, in dem regionale und internationale Akteure die zentrale Rolle spielen. Winkler diagnostizierte fundamentale westliche Missverständnisse im Hinblick auf den sogenannten „Arabischen Frühling“: Wenn man Demokratie wolle, gehe es nicht nur um freie Wahlen, sondern um ein Gesamtpaket. Auch müsse man wichtige Faktoren sehen, wie interne und regionale Machtansprüche, die Verfügungsgewalt über Erdölgewinnung und Energietransport, die Natur des saudiarabischen Regierungssystems, das auf einer Koalition zwischen der Familie Saud und den Wahabiten beruht, den Anhängern des im 18. Jahrhundert wirksamen rigoristischen Theologen Muhammad ibn Abd al Wahab. Dazu komme die im Westen vergessene Tatsache, dass die Grenzen im Nahen Osten nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende des Osmanischen Reiches von den Alliierten gezogen wurden (Sykes-Picot-Abkommen); im Nahen Osten sei das aber noch durchaus im Bewusstsein.
Die Folgen des Syrien-Krieges stellte Stefan Maier im Hinblick auf den Einsatz schwerster Waffen in Wohngebieten ungeschminkt dar: 500.000 Tote, zwei Millionen Verletzte, unzählige traumatisierte Menschen, Witwen und Waisen, sechs Millionen Inlandsvertriebene (die oft schon mehrfach von einem als sicher geltenden Ort zum anderen flüchten mussten), Millionen Flüchtlinge im benachbarten Ausland (drei Millionen in der Türkei, mindestens 1,2 Millionen im Libanon, 650.000 in Jordanien, 230.000 im Irak, 120.000 in Ägypten). Als besonders dramatisch bezeichnete Maier die Situation im Libanon: Das Land, das kleiner als Tirol oder Oberösterreich ist, hat die höchste Pro-Kopf-Flüchtlingsaufnahmequote der Welt. Libanesische Stellen rechnen damit, dass sich mittlerweile die Zahl der im Land lebenden Syrer der Zwei-Millionen-Grenze nähert, heuer wurden im Libanon bereits mehr syrische als libanesische Kinder geboren, zu den Syrern kommen noch zirka 400.000 palästinensische Flüchtlinge bzw. deren Nachkommen. Im Land gibt es 4.000 „informelle“ Flüchtlingslager, zumeist provisorische Zeltstädte, der Grund wird von libanesischen Landbesitzern den syrischen Flüchtlingen um entsprechende Summen vermietet. Ein Großteil der syrischen Kinder im Libanon hat keine Möglichkeit zum Schulbesuch, in der Bekaa-Ebene sind schon achtjährige Flüchtlingskinder gezwungen, auf dem Feld zu arbeiten. „Das ist eine ‚verlorene Generation‘, es entsteht ein Heer von desillusionierten und hoffnungslosen Jugendlichen“, stellte der Leiter der Auslandshilfe der Caritas Salzburg fest, der schon unzählige Male im Libanon war, um an Ort und Stelle dafür zu sorgen, dass die Hilfe greift. U.a. hat sich die Caritas entschlossen, von der Verteilung von Hilfsgütern auf die Vergabe von Bankomat-Karten überzugehen, auf denen 75 Euro pro Monat gespeichert sind, um den Flüchtlingsfamilien eine „würdigere Art der Hilfe“ zukommen zu lassen.
Aber die Caritas leistet auch medizinische Hilfe für die Flüchtlinge, was besonders wichtig ist, weil der Libanon auch in Sachen Gesundheitsvorsorge ein „hochpreisiges“ Land ist. Auch Mietkosten werden bisweilen übernommen. Besonders schwierig sei es, an die christlichen Flüchtlinge heranzukommen, weil sie nicht in den „informellen“ Zeltstädten zu finden sind, sondern in den christlichen Stadtteilen libanesischer Städte leben, berichtete Maier. Er schilderte auch überaus wirksame Caritas-Projekte im Libanon und in Syrien, so die Schule der Barmherzigen Schwestern in Broumana, wo jetzt ein Drittel der Schülerinnen und Schüler syrische Flüchtlingskinder sind, oder die modernste Prothesenwerkstatt Syriens in der Hafenstadt Latakia.
Im Hinblick auf die nach wie vor dramatische Situation in Syrien plädierte Prof. Winkler für den nüchternen Blick auf die Gegebenheiten. In westlichen Medien sei von der „Zerstörung Aleppos“ die Rede gewesen, als die Millionenstadt im Norden Syriens wieder zur Gänze unter Regierungskontrolle kam, aber der chaldäisch-katholische Bischof der Stadt, Antoine Audo, habe ihm gesagt, „endlich konnten wir wieder Ostern feiern“. Das habe nichts mit Parteinahme für Assad zu tun, aber es zeige, wie vielschichtig die Situation sei. Namentlich für die Christen und die Mitglieder anderer minoritärer Religionsgemeinschaften stelle sich die Frage, was es für Alternativen zu Assad geben könne. Die sogenannte demokratische Opposition, die 2011 noch anfänglich bemerkbar gewesen sei, gebe es nicht mehr; die im Westen als „gemäßigt“ deklarierten Fraktionen seien de facto alle islamistisch und nicht bereit, den Christen das gleiche Bürgerrecht zuzugestehen. Der Westen sei – wie in anderen Fällen – auch in Syrien in seine Operation „Regime change“ gegangen, ohne ein Konzept für „danach“ zu haben.
Vernichtung des kulturellen Erbes
Prof. Winkler verwies bei der „Pro Oriente“-Veranstaltung auch auf die Vernichtung des reichen kulturellen Erbes der orientalischen Christen in Syrien und Irak, die von der westlichen Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen wurde. Der Ostkirchenexperte verwies auf von den Islamisten zerstörte Klöster im nördlichen Irak wie Mar Girgis bei Mossul, Mar Elija (wahrscheinlich das älteste Kloster Mesopotamiens, im August 2014 von den Terroristen buchstäblich „pulverisiert“), Mar Behnam (vermutlich im 4. Jahrhundert gegründet, eine uigurische Inschrift an der Fassade verwies darauf, dass die Evangelisierung durch die Apostolische Kirche des Ostens bereits sehr früh den zentralasiatischen Raum erreicht hatte, im März 2015 in die Luft gesprengt). In Syrien hatten die Terroristen das erst 1969/70 aufwändig restaurierte Kloster Mar Elian durch Brandlegung und Bulldozer-Einsatz schwer beschädigt, nachdem zuvor bereits der Abt P. Jacques Mourad entführt worden war (er konnte später mit Hilfe eines muslimischen Freundes fliehen).
Den Islamisten sei es mit diesen Untaten um die Auslöschung des spirituellen Erbes der orientalischen Christen gegangen; die Vernichtung von Handschriften habe auch dazu gedient, die Erinnerung an das intensive Miteinander von Christen und Muslimen zwischen dem 7. und 14. Jahrhundert zu eliminieren. Prof. Winkler würdigte die Programme der Benediktinerabtei St. John’s in Collegeville (Bundesstaat Minnesota) zur Digitalisierung der altsyrischen christlichen Handschriften, die diese kostbaren Zeugnisse für die Nachwelt bewahrt hätten, ebenso den Einsatz der Dominikaner von Mossul, die bei ihrer Flucht vor den IS-Terroristen die Manuskript-Schätze auf LKW verluden.
Insgesamt bezeichnete der Salzburger Ostkirchenexperte die Verluste im Bereich der kulturellen Wiege des Christentums im syrisch-mesopotamischen Raum wörtlich als „Katastrophe“. Diese Verluste seien sowohl auf die Vernichtungsstrategie der Islamisten, als auch auf die Verdrängung der Christen aus ihren Ursprungsländern zurückzuführen. Der Westen habe hier eine hohe Verantwortung.