Metropolit Arsenios würdigt geistesgeschichtliche Bedeutung der „Wiener Genesis“

Präsentation der Faksimile-Edition des in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrten spätantiken Prachtwerks - „Die Schöpfung in ihrer gesamten Schönheit und Vielfalt zu bewahren, muss unser aller Ziel sein“

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Foto ©: Franz Johann Morgenbesser (Quelle: Wikimedia, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Generic)

Wien, 26.09.19 (poi) Die „fundamentale Bedeutung“ der „Wiener Genesis“ – einer in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrten syrischen Handschrift aus dem 6. Jahrhundert – hat der Wiener orthodoxe Metropolit Arsenios (Kardamakis) am Mittwochabend bei der Präsentation der im „Quaternio“-Verlag Luzern erschienenen Faksimile-Edition dieses spätantiken Prachtwerkes betont. In den Illustrationen der „Wiener Genesis“ spiegle sich die „Perfektion der göttlichen Schöpfung“, so der Metropolit. „Diese Schöpfung in ihrer gesamten Schönheit und Vielfalt zu bewahren, muss unser aller Ziel sein“, fügte er hinzu und sagte: „Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht in den Medien weltweit über den Klimawandel berichtet wird. Leider folgen auf die Worte oft keine Taten. Und so läuft die Menschheit Gefahr, wieder der Sünde zu verfallen, indem sie sich an der Schöpfung Gottes jeden Tag aufs Neue vergeht und sie für die kommenden Generationen wissentlich zerstört“. Deshalb würden die orthodoxe Kirche und andere christliche Kirchen nicht müde, sich aktiv für die Umwelt und deren Schutz einzusetzen. In diesem Sinne werde die Handschrift der „Wiener Genesis“ niemals ihre Aktualität verlieren, „nicht aus geistlicher, nicht aus theologischer, nicht aus menschlicher und nicht aus historischer Sicht“. Der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel, Bartholomaios I., setze sich seit seiner Inthronisation 1991 aktiv für den Schutz der Schöpfung ein und werde deshalb zurecht als „grüner Patriarch“ bezeichnet, stellte der Metropolit fest. Die weltweit anerkannten Initiativen des Patriarchen gründeten „auf dem tiefen Glauben und der Ehrfurcht vor dem Wort des allmächtigen Gottes“. Darauf basiere die Erkenntnis, dass „diese Welt, in der wir leben dürfen, nicht uns gehört, sondern uns lediglich anvertraut ist“.

Mit der Präsentation der Faksimilie-Ausgabe der „Wiener Genesis“ im Oratorium der Österreichischen Nationalbibliothek würden „neue und unbekannte Türen“ zu einer vergangen wirkenden Welt geöffnet, sagte der Metropolit. Es werde ein „geistlicher und kultureller Raum“ betreten, der in der Gegenwart selten verstanden wird. Der Text sei ein Fragment des biblischen Buches „Genesis“ in der griechischen Septuaginta-Übersetzung. Dieses Buch sei ein „integraler Bestandteil des Alten Testaments und somit des christlichen Glaubens“. Metropolit Arsenios  zitierte die ersten Worte des Buches „Genesis“: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“. In diesen „knappen und doch überaus bedeutungsvollen“ Worten werde der Akt der Schöpfung manifest. Gleichzeitig werde das Verhältnis Gottes zum Menschen zum Ausdruck gebracht. Diese Verbindung sei von Gott nie unterbrochen worden, „auch wenn Adam und Eva durch den Sündenfall geistlich erblindet sind und daraufhin das Paradies verlassen mussten“. Gott habe seine Schöpfung jedoch nie vergessen, sondern – wie im Alten Testament oft zu lesen sei –  seine „ungebrochene Menschenliebe, seine große Gnade und sein unermüdliches Erbarmen“ immer wieder gezeigt. In der Geburt Jesu Christi liege die Erneuerung des Bundes Gottes mit den Menschen begründet: „Gott hat sich erniedrigt, um den Menschen zu erhöhen“. Der gekreuzigte und am dritten Tag auferstandene Christus habe die Tore der Totenwelt zerschlagen und Adam und Eva als Urbild der Menschheit aus der Dunkelheit der Sünde befreit, wie die orthodoxe Auferstehungsikone einprägsam zeige, auf der Christus Adam und Eva an der Hand nimmt und aus den Gräbern befreit, erinnerte der Metropolit.  Schließlich beinhalte das griechische Wort der Genesis noch eine dritte Bedeutung, die auf die Erhaltung der Schöpfung für die kommenden Generationen abziele.

 

„Realer Beweis christlicher Präsenz im Nahen Osten“

Metropolit Arsenios dankte dem „Quaternio“-Verlag für die Faksimile-Ausgabe der Handschrift. Es handle sich um einen sehr wichtigen Schritt, sie als „universelles Kulturgut der Menschheit in das Licht der Öffentlichkeit zu tragen“. Dies sei umso bedeutender, als die Handschrift wahrscheinlich im syrischen Raum entstanden ist. Sie sei ein Beweis für die lebendige theologische, historische und kulturelle Verbindung der Orthodoxie mit dem Nahen Osten. Der andauernde Konflikt in der Region, vor allem in Syrien, gefährde seit Jahren die Existenz der christlichen Gemeinschaften in der Region mit den bekannten furchtbaren Folgen. Auch aus dieser Perspektive komme der „Wiener Genesis“ eine fundamentale Bedeutung zu. Sie sei als Objekt der „reale Beweis christlicher Präsenz im Nahen Osten“ und „eine Tür zu einer vergangenen Welt, die niemals ihre Aktualität verlieren wird“. Bei der Präsentation wurde das Exemplar Nummer 1 der Faksimile-Edition an die Präsidentin der Österreichischen UNESCO-Kommission, Sabine Haag, überreicht, die das Patronat über die Edition übernommen hat.

Die „Wiener Genesis“ zeichnet sich durch ihre in Purpur getränkte Seiten, intensiv leuchtende Farben, Silbertinte für den griechischen Text und Gold zur Ausschmückung der Details aus. Die 24 erhaltenen Blätter der Handschrift überliefern den ältesten erhaltenen Bilderzyklus der Bibel und verweisen sowohl zeitlich als auch räumlich auf die Wiege der Christenheit im östlichen Mittelmeerraum. Die 48 Miniaturen mit ihren 120 Einzelszenen aus dem ersten Buch des Alten Testaments faszinieren durch die Lebendigkeit und künstlerische Meisterschaft in der Darstellung von Mimik und Gestik, von Perspektive und Bewegung.

Die 1.500 Jahre alten Fragmente der „Wiener Genesis sind einer der kostbarsten, aber auch empfindlichsten Handschriftenschätze der Österreichischen Nationalbibliothek. Nach einer mehrjährigen Restaurierungsphase werden sie daher aus konservatorischen Gründen so gut wie nicht mehr zugänglich sein. Damit auch zukünftige Generationen dieses einzigartige kulturelle Erbe bewundern können, ist der „Quaternio“-Verlag Luzern als anerkannter Spezialist und verlässlicher Partner mit der originalgetreuen Faksimilierung der äußerst fragilen Prachthandschrift beauftragt worden, wie die Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek, Johanna Rachinger, bei der Präsentation hervorhob.

Eine besondere Herausforderung stellte hierbei die Wiedergabe der Fehlstellen dar, die durch die sich zersetzende Silbertinte entstanden sind. Im Laufe der vergangenen 15 Jahrhunderte hat sich diese Tinte durch das dünne, feine Pergament gefressen, so dass einzelne Buchstaben und Wörter aus den Textzeilen herausgebrochen sind. Diese „Löcher“ wurden mittels Laser mit großer Präzision aus den Druckbögen gestanzt. Die betreffenden Seiten durften durch diese Prozedur freilich nicht instabil werden. Im Ergebnis ist die „Wiener Genesis“ im Faksimile als ein Meisterwerk der christlich-byzantinischen Buchmalerei mit all seinen Alterungsspuren seit der Spätantike authentisch erlebbar.

Bei der feierlichen Übergabe der Faksimile-Edition am Mittwochabend hielt Doz. Christian Gastgeber, Byzantinist an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Institut für Mittelalterforschung, den Festvortrag über „Die ‚Wiener Genesis zwischen Prunk und Mysterium. So geheimnisvoll wie verzaubernd“. Bei der Veranstaltung am Mittwochabend lagen zwei Faksimile-Exemplare der „Wiener Genesis“ zum Blättern aus, sodass jedes faszinierende Detail der prächtigen Handschrift aus nächster Nähe betrachtet werden konnte. (Info: info@quaternio.ch).