Nordostsyrien: Christen in großer Sorge wegen des türkischen Einmarschs

Nach dem türkischen Einmarsch in Rojava waren die alten Ängste der Christen wieder erwacht – „Wir Christen werden die Rechnung bezahlen müssen

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Foto: © CDC (Quelle: Wikimedia; Lizenz: public domain)

Damaskus-Bagdad,  10.10.19 (poi) Der türkische Einmarsch in Nordostsyrien hat internationale Turbulenzen ausgelöst, aber auch die Christen in diesem Gebiet sind in tiefe Ängste gestürzt. Viele Orte in der Djazira (dem Gebiet zwischen Euphrat und Tigris), auch die Städte wie Qamishli und Hasake, waren in der französischen Mandatszeit Zufluchtsorte der Christen, die den vom jungtürkischen Regime ab 1915 inszenierten Völkermord in den weiter nördlich gelegenen Gebieten (jenseits der 1923 schematisch auf dem Bahndamm der Bagdad-Bahn gezogenen Grenze) überlebt hatten. Die Erinnerung an den „Sayfo“ (den Völkermord) prägt das Bewusstsein auch der heutigen christlichen Bewohner des Gebietes. Sie sind überzeugt, dass jede politisch-militärische Veränderung der Situation die Christen in Gefahr bringt.

Das Oberhaupt der chaldäisch-katholischen Kirche, Kardinal-Patriarch Mar Louis Raphael Sako, hat von Bagdad aus im Gespräch mit der italienischen katholischen Nachrichtenagentur SIR seine tiefe Besorgnis über die Entwicklung in Rojava betont, dem kurdisch kontrollierten Gebiet, das auf aramäisch auch Gozarto genannt wird. „Wie kann man einem Staat erlauben, im Gebiet des Nachbarn einzufallen“, fragte der Kardinal-Patriarch im Hinblick auf den türkischen Einmarsch in Rojava: „Warum zwingt man ganze Volksgruppen zur Flucht? Wo ist das internationale Gewissen geblieben?“ Schon seit geraumer Zeit sei über diese türkische Invasion die Rede gewesen, auch im Irak gebe es jetzt Angst wegen der unmittelbaren Nachbarschaft mit der Türkei. Leider sei der Westen „schüchtern“, man verschließe die Augen vor dem Leid der betroffenen Menschen.

Aber alle diese Menschen seien „Kinder Gottes“, die Anspruch auf Respektierung ihrer Würde haben, so der chaldäisch-katholische Kardinal-Patriarch: „Wir sind alle besorgt und verängstigt im Hinblick auf das, was in unserem Raum geschehen kann. Wir fragen uns, wohin sich unsere Länder mit diesem Gewicht von Tod und Gewalt bewegen werden, unsere Länder, die voll von Opfern, Verwundeten, zerstörten Familien sind, ohne ausreichende Häuser, Schulen und Infrastrukturen“.

Die Sorge von Mar Louis Raphael Sako wird durch die Auseinandersetzungen im Irak verstärkt, wo bei den Demonstrationen gegen Teuerung, Arbeitslosigkeit und Korruption in den Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften mehr als 100 Personen den Tod gefunden haben. Der Kardinal-Patriarch erließ einen Gebetsappell für die Seelenruhe der Opfer und die Stabilität des Irak: „Es ist dringend  notwendig, dass die Verantwortlichen den politischen Prozess rasch mit Taten statt mit Worten wieder in Gang bringen, wie es die friedlichen Demonstranten gefordert haben. Die Gewalt ist absurd und dient nicht dem Frieden“. Die Probleme könnten nur gelöst werden, wenn es einen friedlichen Dialog gebe und ein „gesundes Zukunftsprojekt“ vorgelegt werde. Eindringlich stellte der chaldäische Patriarch fest: „Die Gewalt im Namen der Religion ist Sünde, die Korruption ist Sünde, Stehlen ist eine Sünde“. Das Volk sei enttäuscht, es habe Hunger und lebe im Elend. Der Irak brauche einen modernen Staat auf der Basis gleicher Bürgerrechte für alle.

Nach Berichten aus Rojava wurde Qamishli bereits am Mittwoch von der türkischen L:uftwaffe angegriffen, wobei es zahlreiche  Verletzte unter der Zivilbevölkerung gegeben habe. Später gab es auch Angriffe mit Geschützen. Ähnliches wurde auch aus anderen Städten berichtet. Zugleich gab es Hinweise, dass im Camp Al Hol, wo gefangene IS-Terroristen und ihre Familienangehörigen festgehalten werden, Zellen angezündet worden seien. Das wurde als Vorbereitung zu einem großangelegten Ausbruchsversuch interpretiert.

Der emeritierte syrisch-katholische Erzbischof von Hassake und Nusaybin, Jacques Behnan Hindo, sagte im Hinblick auf die Berichte über zwei christliche Todesopfer im Bereich der Georgskirche in Qamishli: „Wir immer verfolgen alle ihre Interessen, aber wir Christen werden die Rechnung bezahlen müssen“. Erzbischof Hindo war im März mit der Führungsriege der kurdischen PYD-Partei zusammengetroffen und hatte sie inständig gebeten, von ihren großflächigen Plänen abzusehen: „Sie meinen, dass sie das Recht auf eine autonome Region wie die Kurden im Irak haben. Aber die Kurden im syrischen Rojava machen höchstens zehn  Prozent aus. Es sind Menschen, deren Vorfahren nach 1925 ins Mandatsgebiet gekommen sind“. Hindo ist überzeugt, dass die Kurden gegen die türkischen Truppen unterliegen werden, weil sie von den USA und anderen westlichen Bündnispartnern keine Unterstützung erfahren.