Patriarch Kyrill weihte Kathedrale in der Stadt, in der Sacharow forschte

Moskauer Patriarch plädierte in Sarow am Sitz des zentralen russischen Kernforschungsinstituts für einen neuen Dialog zwischen Kirche und Naturwissenschaft, um in einer Zeit dramatischer technischer Veränderungen die Humanität des Menschen zu bewahren – „Arzamas-16“, das wissenschaftliche Zentrum, dessen Existenz in Sowjetzeiten streng geheim gehalten wurde

0
375
Foto ©: Serge Serebro, Vitebsk Popular News (Quelle: Wikimedia, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported)

Moskau, 05.08.19 (poi) Der Moskauer Patriarch Kyrill I. hat in der nordrussischen Stadt Sarow die wiederaufgebaute Kathedrale der Entschlafung der Muttergottes geweiht und dort in Konzelebration mit 14 Bischöfen die erste Göttliche Liturgie gefeiert. Dabei handelte es sich nicht um einen Provinzvorgang, sondern in doppelter Hinsicht um ein Ereignis von außerordentlicher Bedeutung: Sarow ist der Sterbeort des Heiligen Seraphim von Sarow (1759 bis 1833), eines der bedeutendsten russisch-orthodoxen Mönchsheiligen, der heute in der ganzen Orthodoxie, aber auch in der katholischen und in der anglikanischen Kirche hoch verehrt wird. Sarow hat aber auch noch eine andere Bedeutung: Hier entstand ab 1946 das „Panrussische Institut für die wissenschaftliche Forschung in Experimentalphysik“ (VNIIEF), wo die sowjetischen Atomwaffen entwickelt wurden. Wegen der Präsenz des VNIIEF wurde Sarow zur absoluten Sperrzone, der Name der Stadt verschwand aus allen öffentlichen Karten, Verzeichnissen usw.; es blieb nur der Tarnname „Arzamas-16“. In Sarow waren herausragende Wissenschaftler wie Andrej Sacharow, Igor Kurtschatow und Julij Khariton tätig, die hier mit ihren Teams die erste sowjetische Atombombe (1949) und die erste Wasserstoffbombe (1955) entwickelten. Nach dem Ende des Kalten Krieges nahm das VNIIEF Kontakte mit vergleichbaren Einrichtungen in den USA, Frankreich und China auf. Vor allem mit dem US-Institut in Los Alamos entwickelte sich eine intensive Zusammenarbeit im Bereich zentraler kernphysikalischer Themen – wie der „starken Kraft“ und der intensiven Magnetfelder -, die auch praktische Auswirkungen etwa im Hinblick auf die Plasmaphysik und ihre Anwendungen bei der Energieproduktion durch Kernfusion haben. Am Vorabend der Weihe der wiederaufgebauten Kathedrale hielt Patriarch Kyrill im Auditorium des VNIIEF vor einem Publikum aus hochrangigen Wissenschaftlern, Politikern und Journalisten einen Vortrag zum Thema „Der Aufbau einer neuen Wirklichkeit: Zukunftstechnologien und spirituelle Erneuerung“. Dabei plädierte der Patriarch für eine neue „Interaktion“ zwischen Naturwissenschaft und Religion, um dem Menschen zu helfen, in einer Zeit dramatischer technischer Veränderungen seine Humanität zu bewahren.

Kyrill I. erinnerte eingangs daran, wie er „in den schwierigen 1990er-Jahren“ – damals noch nicht Patriarch – in Sarow dabei war, als Naturwissenschaftler und Kirchenleute Kooperationen vereinbarten, um den Verfall Russlands und seiner wissenschaftlichen Institutionen zu stoppen. Vielen Wissenschaftlern sei damals ihr Gehalt vorenthalten worden, stellte der Patriarch fest: „Man kann sich schwer vorstellen, was aus Russland geworden wäre, wenn großartige Wissenschaftler, die für die Sicherheit des Landes arbeiteten, ihren Platz verlassen hätten“. Damals hätten Wissenschaftler und Kirchenleute die gemeinsame Verantwortung für die Bewahrung des Landes, für die „spirituelle Sicherheit des Vaterlandes“, erkannt.

Wenn man sich lange nicht gesehen habe, werde die Frage gestellt, wie geht es, ist alles in Ordnung, sagte Kyrill I. Diese Frage stelle er auch an die im Auditorium des VNIIEF Versammelten: „Ist alles mit uns als Personen in Ordnung? Ist alles mit uns als Bürgern der Russischen Föderation in Ordnung?“ In der Geschichte sei es eine der Hauptaufgaben der Religion in der Gesellschaft gewesen, Prinzipien zu vertreten, von denen aus entschieden werden konnte, was korrekt, akzeptabel, irrig oder schuldhaft ist. Heute aber habe die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einsetzende Destruktion der traditionellen Lebensweise ihren Höhepunkt erreicht. Die Ordnung dieser Lebensweise werde entschlossen zurückgewiesen.

Man könne lang darüber diskutieren, in welcher Epoche heute gelebt werde – einer modernen, postmodernen, neokonservativen oder was immer – eines sei sicher, es gebe keine grundlegende Autorität mehr, unterstrich der Moskauer Patriarch. Im öffentlichen Bewusstsein schrumpfe die Zahl der allgemein akzeptierten Wahrheiten. Immer öfter könne man hören: „Aber es gibt auch eine andere Meinung“. Als Primas der Kirche müsse er mit einer gewissen Bitterkeit feststellen, dass es von Jahr zu Jahr schwieriger werde, über die ewigen Wahrheiten zu sprechen, weil die Hörbereitschaft der Zeitgenossen immer mehr zurückgehe. Die technologische Revolution der Information habe ungeheure neue Möglichkeiten eröffnet. Aber die Menschen seien immer weniger bereit, das Wichtige zu hören.

In keiner Weise wolle er die wissenschaftlichen Entdeckungen oder die technischen Entwicklungen kleinreden, betonte Kyrill I. Es sei auch kein Zufall, dass die europäische christliche Kultur die Wiege des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts geworden sei, von dem die ganze Welt profitiere. Und doch müsse man sich die Frage stellen, ob es heute nicht eine tragische Mutation des Zentrums der Aufmerksamkeit von den essenziellen Fragen zum Enthusiasmus für die Technik gebe. Wörtlich stellte der Patriarch fest: „Sind wir nicht dabei, aus einem Subjekt zum Objekt zu werden, das nur die von Maschinen entwickelten Algorithmen des Verhaltens beachten muss, um in der Konsumgesellschaft zu bestehen?“

An die Wissenschaftler stellte Kyrill I. die Frage, ob die Grenze zwischen der „Wirklichkeit dieser Welt“ und der künstlichen Wirklichkeit noch gesehen werde, „zwischen der Welt des lebendigen Worts und der Welt der binären Zahlen“. Natürlich könne man heute auf Knopfdruck tausende Fotos aufrufen, „aber sind die alten analogen Fotos, die wir im Familienalbum aufbewahren, uns nicht unendlich teurer als die digitalen Fotos? E-Mail hat die Welt in einen großen digitalen Raum ohne Grenzen verwandelt: Aber wo ist die Freude geblieben, wenn endlich das Kuvert mit dem lang erwarteten Brief eingetroffen ist?“ Die Mode der „Selfies“ erscheine ihm schrecklich, so der Patriarch: „Im Hintergrund eine große Kathedrale, als Dekoration, und vorne ich, als das Wichtigste“.  In der Welt der binären Zahlen täten sich Kinder schwer, Bücher zu lesen, wo es doch auf „YouTube“ Videos über alles gebe, wenn man die Kinder einlade, einen Brief mit der Hand zu schreiben, herrsche tiefes Erstaunen.

Er zähle all das auf, um darauf hinzuweisen, wie sehr sich die Welt in den letzten Jahrzehnten geändert habe, sagte der Moskauer Patriarch. Die Intensität der Veränderung nehme ständig zu, aber müsse man allem applaudieren oder nicht doch kritisch die Konsequenzen dieser Entwicklungen in den Blick nehmen. Wörtlich stellte Kyrill I.fest: „Wir Kirchenleute können ohne Sie, die Wissenschaftler, die vitale Frage nicht beantworten: Warum und wie verwandeln sich die neuen Techniken aus Assistenten zu Okkupanten? Warum und wie beginnen die neuen Techniken eine Rolle zu  spielen, die ihnen nicht zukommt? Wir brauchen eine nicht offizielle, nicht formelle, aber tiefgreifende Interaktion zwischen Religion und Wissenschaft. Nicht um fiktive Gegensätze zu überwinden, das war eine Sorge des 19. und 20. Jahrhunderts. Das ist eine Sache der Vergangenheit. Heute stehen wir vor der neuen Aufgabe, dem Menschen durch gemeinsame Anstrengungen zu helfen, in einer ‚technogenen Welt‘, die sich rapid verändert, seine Humanität zu bewahren. Als Spitzenwissenschaftler wissen Sie besser als ich, was in der Technik und damit in allen Bereichen unseres Lebens in den kommenden Jahrzehnten geschehen wird. Denken wir gemeinsam, jeder auf seine Weise, was uns hilft, das menschliche Antlitz zu bewahren, was uns hindert, dies zu tun, was uns hilft, unsere Seele zu bewahren, jene inneren Gesetze, deren wichtigstes das Prinzip des Gewissens ist, das die Wissenschaft nicht erklären kann“.

Es stelle sich die Frage, wo die Grenze zwischen der Notwendigkeit der staatlichen Kontrolle über das Leben der Bürger und der Verletzung der verfassungsmäßigen Freiheitsrechte verläuft, betonte der Patriarch. Das „Beispiel anderer Länder“ zeige, wie rasch es möglich sei, ein totalitäres System der Kontrolle über jeden Bürger aufzubauen, sein digitales Profil zu erstellen und praktisch unbegrenzte Kontrolle über sein Leben auszuüben. Er wolle nicht  Alarm schlagen, aber ohne Antworten auf diese wichtigen und komplexen Fragen werde es schwierig sein, in die Zukunft voranzuschreiten.

Wenn die Seele bewahrt werde, könne kein „neuronales Interface“, kein noch so moderner Roboter die Rolle des Menschen übernehmen, das sei keiner Maschine gegeben, stellte Kyrill I. fest und fügte abschließend hinzu: „Ich hoffe aufrichtig, dass der Dialog zwischen der Kirche und der wissenschaftlichen Community, die Sie hier heute repräsentieren, in Zukunft fortgesetzt wird, nicht nur zum Wohl unseres Vaterlandes, sondern ganz allgemein zum Wohl des Menschen“.

Anderntags weihte der Patriarch im historischen Kloster von Sarow – das dem Hauptverwaltungsgebäude des VNIIEF benachbart ist – die wiederaufgebaute Kathedrale der Entschlafung der Gottesmutter. Die Kirche war 1744 erbaut worden. 1925 wurde das Kloster geschlossen, die kommunistischen Behörden verfolgten die Mönche. Während des Zweiten Weltkrieges wurden in der Kathedrale und anderen Klostergebäuden die als „Stalinorgel“ bekannt gewordenen Raketenwerfer produziert, denen der Volksmund nach einem damals Furore machenden Schlager den Namen „Katjuscha“ (Katharinchen) verpasst hatte. Zu Beginn der 1950er-Jahre wurde die Kathedrale wegen angeblicher Baufälligkeit von den Sowjetbehörden gesprengt. Erst 2016 konnte mit dem Wiederaufbau begonnen werden, Patriarch Kyrill legte damals am 1. August den Grundstein.