Russisch-orthodoxe Kirche gedenkt des ersten Märtyrers der bolschewistischen Kirchenverfolgung

Erzpriester Ioann Kotschurow wurde am 31. Oktober alten Stils des Jahres 1917 in Zarskoje Selo erschossen – Er hatte sich in den Revolutionswirren unermüdlich für Versöhnung eingesetzt

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Foto ©: Ansichten-Archiv "Deutschland und die Welt" (Quelle: Wikimedia, Lizenz: United States public domain)

Moskau, 07.11.17 (poi) In der russisch-orthodoxen Kirche wird an den ersten Märtyrer der bolschewistischen Kirchenverfolgung erinnert, den Erzpriester Ioann Kotschurow (1871-1917), der am 31. Oktober 1917 (nach dem Julianischen Kalender) von bolschewistischen Kämpfern in Zarskoje Selo ermordet wurde. Aus den Augenzeugenberichten geht klar hervor, dass der Erzpriester nichts anderes getan hatte, als für Versöhnung einzutreten. Trotzdem wurde er zum Standquartier des Arbeiter- und Soldaten-Rates in dem früher so beschaulichen Residenzstädtchen am Rande von St. Petersburg gezerrt, Ioann Kotschurow versuchte zu protestieren, dann schleppte ihn der Mob zum Flugfeld von Zarskoje Selo, mehrere Schüsse wurden abgegeben, Schreie wurden laut „Schlagt ihn tot wie einen Hund“. Der Leichnam wurde anderntags in das frühere Palast-Krankenhaus gebracht, das goldene Brustkreuz war inzwischen verschwunden. Die trotz der bolschewistischen Machtergreifung noch amtierenden Behörden der provisorischen Regierung setzten noch eine Kommission zur Untersuchung der Umstände des Mordes an Ioann Kotschurow ein, aber die Erhebungen verliefen im Sand, bis die „Volksmacht“ die Auflösung der Kommission anordnete.

Metropolit Benjamin (Kazanskij) von St. Petersburg – der selbst Ende 1922 nach einem Schauprozess das Martyrium erleiden sollte – feierte am 26. November 1918 (nach dem Julianischen Kalender) in der Katharinenkathedrale von Zarskoje Selo die Göttliche Liturgie, bei der er in besonderer Weise des ermordeten Erzpriesters gedachte. Der Metropolit rief das versammelte Volk zu „Einheit, Nächstenliebe und Brüderlichkeit“ auf. Die Ermordung von Ioann Kotschurow sei ein trauriges Ereignis gewesen, stellte der Metropolit fest, aber zugleich ein Beispiel des christlichen Martyriums: Der Erzpriester habe sein Leben aus Liebe zu Gott und den Nächsten hingegeben und damit auch der Versöhnung gedient. Die Predigt des Metropoliten löste bei vielen Menschen Tränen aus.

Ioann Kotschurow war erst im November 1916 zum Vizepfarrer an der Katharinenkathedrale ernannt worden. Durch seine Offenheit, seinen seelsorglichen Eifer und seine Begabung als Prediger gewann der Erzpriester, der mit seiner Frau und den fünf Kindern in Zarskoje Selo eingezogen war, bald die Herzen der Gläubigen. Aber die Schatten der Februar-Revolution machten sich bald auch in Zarskoje Selo – das so lange die Vorteile des stillen Provinzstädtchens mit denen der glanzvollen Hauptstadt des Russischen Reiches verbunden hatte – bemerkbar. Schon in den ersten Tagen der Revolution kam es im militärischen Hauptquartier in Zarskoje Selo zu Aufständen der Soldaten, der Zar und seine Familie wurden im Aleksandrowskij-Palast konfiniert. Für die Repräsentanten der bürgerlichen – und bald auch die der proletarischen – Revolution wurde Zarskoje Selo zu einem Ort von zentraler Bedeutung. Der Erzpriester – der aus seiner Zeit als Priester in den Vereinigten Staaten über reiche Erfahrungen als „Seelsorger in einer säkularen Gesellschaft“ verfügte – ging unbeirrt seinen Weg weiter, Sonntag für Sonntag rief er bei seinen Predigten in der Katharinenkathedrale zur Versöhnung und zur Besinnung auf die zentralen Inhalte des christlichen Glaubens auf.

Nach der bolschewistischen Machtergreifung in St. Petersburg im Rahmen der „Oktober-Revolution“ ergab sich eine neue Situation. In Zarskoje Selo standen immer noch Kosaken-Einheiten unter dem Kommando von General Pawel Krasnow, der gegenüber der Provisorischen Regierung loyal war. Daraufhin wurden aus St. Petersburg Angehörige der „Roten Garde“ – Soldaten und Matrosen – nach Zarskoje Selo in Marsch gesetzt. Am Morgen des 30. Oktober 1917 eröffneten die bolschewistischen Einheiten das Artilleriefeuer auf das Städtchen. Die Bewohner flüchteten in die orthodoxen Kirchen einschließlich der Katharinenkathedrale. Der Dekan der Kathedrale und die anderen Priester – unter ihnen Ioann Kotschurow – entschlossen sich, eine Friedensprozession durch die Stadt zu führen. Als sich die Prozession in Bewegung setzte, verließen die Kosaken die Stadt. Auf die Frage, ob man jetzt nicht nach Hause gehen solle, antworteten die Priester: „Die Kosaken haben uns verlassen, die, die kommen, sind unsere Brüder. Was sollen sie uns antun?“ Am Morgen des 31. Oktober besetzten die bolschewistischen Einheiten ohne Widerstand die Stadt. Als erstes wurden die Wohnungen von Offizieren durchsucht, Verhaftungen wurden vorgenommen. Unter den Verhafteten waren auch Ioann Kotschurow und andere Priester. Sie wurden beschuldigt, bei der Prozession für den Sieg der Kosaken gebetet zu haben – was nicht den Tatsachen entsprach. Die anderen Priester wurden freigelassen, Kotschurow erlitt das Martyrium.

Ioann Kotschurow – 1871 in der Region Rjasan als Sohn eines Priesters geboren – hatte einen überaus abwechslungsreichen Lebensweg als Priester und Missionar hinter sich. Schon unmittelbar nach seiner Heirat und seiner Priesterweihe wurde er nach Amerika entsandt, um in der Eparchie von Alaska und den Aleuten zu dienen, wo große Teile der Bevölkerung russisch-orthodox geworden waren. Aber er wurde nicht in den orthodoxen Dörfern in Alaska eingesetzt, sondern in der aufstrebenden Metropole Chicago. Mitten unter den oft Not leidenden Immigranten aus Osteuropa lebte Ioann Kotschurow als „Armer unter Armen“ – inmitten einer dem orthodoxen Bekenntnis durchaus abgeneigten Umwelt und schwierigen gesellschaftlichen, finanziellen usw. Umständen. Trotzdem gelang es ihm, in Chicago die orthodoxe Dreifaltigkeitskathedrale aufzubauen und die orthodoxe Seelsorge in Gang zu bringen. Seine Bemühungen entwickelten große Anziehungskraft auf viele Ostchristen, auch auf nicht wenige „Unierte“ aus der österreichisch-ungarischen Monarchie, die froh waren, in Ioann Kotschurow einen ostkirchlichen Seelenhirten zu finden. Der Erzpriester wurde einer der angesehensten orthodoxen Geistlichen in Nordamerika, hochgeschätzt von Bischof Tichon (Bellawin), der 1917 zum Patriarchen von Moskau gewählt werden sollte.

Trotzdem sehnte sich Kotschurow nach der Heimat. 1907 wurde er zum Religionslehrer an den beiden Gymnasien im estnischen Narwa ernannt (dem Buben- und dem Mädchengymnasium). Seine US-amerikanischen Erfahrungen erleichterten ihm den Dienst in der je zur Hälfte orthodoxen und evangelisch-lutherischen Stadt. Die kirchlichen Behörden schätzten den schulischen Einsatz des Erzpriesters, 1916 wurde er mit dem Wladimir-Orden ausgezeichnet und nobilitiert. Aber seine Sehnsucht blieb der Pfarrdienst. Diese Sehnsucht sollte erst im November 1916 mit seiner Ernennung für Zarskoje Selo in Erfüllung gehen.

Die Nachricht von der Ermordung des Erzpriesters löste beim allrussischen Landeskonzil, das in Moskau tagte, tiefe Emotionen aus. Fünf Monaten nach dem Tod von Vater Ioann – am 31. März 1918 – wurde in der Kirche des Moskauer Seminars die erste Gedenk-Liturgie für die Neumärtyrer der russischen Kirche gefeiert (was damals noch möglich war). Hauptzelebrant war Patriarch Tichon, die Liste der Neumärtyrer war mittlerweile schon lang geworden. Beim Fürbittgebet für die Opfer wurde Erzpriester Kotschurow unmittelbar nach dem ersten ermordeten Bischof – Metropolit Wladimir (Bogojawlenskij) von Kiew – genannt.

1994 sprach das Bischofskonzil des Moskauer Patriarchats Ioann Kotschurow als Märtyrer heilig. Er wird nicht nur in Russland, sondern insbesondere auch in den Vereinigten Staaten sehr verehrt.